Opferentschädigung kann nur verlangen, wer vor der Geburt durch den fortgesetzten Alkoholmissbrauch seiner Mutter in der Schwangerschaft dadurch geschädigt wird, dass die Grenze zum kriminellen Unrecht überschritten wird, der Alkoholmissbrauch also auf einen versuchten Abbruch der Schwangerschaft gerichtet ist. Dies hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts am 24.09.2020 entschieden (B 9 V 3/18 R).
Was war geschehen?
Die Klägerin ist wegen einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie schwerbehindert. Sie beantragte im Jahre 2009 erfolglos Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz, weil sie durch ein fetales “Alkohol-Syndrom” aufgrund des Alkoholkonsums ihrer leiblichen Mutter in der Schwangerschaft geschädigt worden sei. Die Vorinstanzen haben die Klage nach Vernehmung der leiblichen Eltern als Zeugen abgewiesen, obwohl beide erheblichen mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaften eingeräumt hatten.
BSG: Entschädigung ist bei Tötungsabsicht möglich
Das BSG hat die Entscheidungen im Ergebnis bestätigt. Allerdings ist auch die Leibesfrucht vom Schutzbereich des Opferentschädigungsgesetzes umfasst. Ein vorgeburtlicher Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft kann einen tätlichen Angriff auf das ungeborene Kind oder eine gleichgestellte Beibringung von Gift darstellen (§ 1 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 OEG). Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Alkoholkonsum einer Schwangeren auf einen versuchten Abbruch der Schwangerschaft (§§ 218 Abs. 4 S. 1, 22 StGB), also eine versuchte Tötung des ungeborenen Kindes, gerichtet ist. Die Körperverletzungstatbestände gelten nach dem Willen des Gesetzgebers für die Schwangere nicht im Verhältnis zu ihrem ungeborenen Kind.
Nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts lässt sich der nötige mindestens bedingte Vorsatz zum Abbruch einer Schwangerschaft bei der Mutter der Klägerin nicht nachweisen. Aus dem Vorversterben zweier Geschwister nach der Geburt musste das Landessozialgericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung nicht schlussfolgern, dass die Mutter nunmehr den Tod der ungeborenen Klägerin infolge ihres Alkoholkonsums als möglich angesehen und billigend in Kauf genommen hat.